Vom Paulus zum Saulus?

Heilung oder Humbug? Auto­bi­ographis­che Anmerkun­gen zum neuesten Buch eines fundierten Alter­na­tivmedi­zin-Skep­tik­ers (kurzum: eine etwas „ent­glit­tene“ Buchrezension)

Rund 35 Jahre ist es her, als ich — ein junger Heil­prak­tik­er, Medi­zin­er und Fachmedi­z­in­jour­nal­ist — Edzard Ernst bei einem Alter­na­tivmedi­zin-Kongress (sic!) an der Freien Uni­ver­sität Berlin erst­mals begeg­nete. Seine ver­schmitzt lächel­nden Augen, sein aus­ge­sproch­enes und liebevolles Inter­esse am Woh­lerge­hen und der Heilung sein­er, auch naturheilkundlich behan­del­ten Patien­ten und seine zuge­wandte Art einem jun­gen Alter­na­tivmedi­zin-Inter­essen­ten gegenüber, hat mir die Begeg­nung unvergesslich wer­den lassen. Trotz seines späteren, über etliche uni­ver­sitäre Lehrstüh­le führen­den, extrem „präg­nan­ten“ Alter­na­tiven­medi­zin-Skep­tizis­mus — seines Weges vom Paulus zum Saulus der Alter­na­tivmedi­zin also -, blieb dieser ini­tiale Ein­druck immer in meinem Herzen. Auch bei späteren Begeg­nun­gen erlebte ich Ernst als Men­sch ähn­lich wie bei der ersten Begeg­nung — auch wenn ich zunehmend die Grun­dan­nah­men sein­er Ein­schätzun­gen und Vorstel­lun­gen ablehnte.

Und genau über diese Grun­dan­nah­men schreibt er erneut auch in seinem neuesten Buch „Heilung oder Hum­bug?“ [1], in gewiss­er Weise die Sum­ma sein­er bish­eri­gen fach­lichen Arbeit. Ich berichte hier nicht über seine, aus mein­er Sicht manch­mal stark vorurteils­be­hafteten Bew­er­tun­gen von alter­na­tivmedi­zinis­chen Ver­fahren (v.a. “nicht evi­denzbasiert” und voller “Schar­la­tane”), die inter­essierte LeserIn­nen selb­st nachvol­lziehen kön­nen (siehe unten). Und auch nicht über die teil­weise witzi­gen Abhand­lun­gen zu rund 150 alter­na­tivmedi­zinis­chen Ver­fahren (das homöopathis­che Mit­tel aus „Berlin­er Mauer“ kan­nte ich noch gar nicht!).

Natür­lich ist eine Buchbe­sprechung keine wis­senschaftlich akzep­tierte Gele­gen­heit, in die Tiefe the­ma­tis­ch­er Diskus­sio­nen einzusteigen. Den­noch möchte ich wenig­stens die medi­zin-ethis­che Forderung des „Nihil nocere!“, des „Richte keinen Schaden an!“, erwäh­nen, die Ernst miss­braucht, um z. B. an Homöopathie bzw. Homöopa­then klein­liche Kopfnüsse zu verteilen. Und dabei den mil­lio­nen­fachen Schaden durch die Schul­medi­zin, und wenn es „nur“ die durch Prof­it­gi­er bed­ingte Schädi­gung unser­er Sozial­sys­teme beträfe, völ­lig uner­wäh­nt lässt. Die eigentlichen ethis­chen Prob­leme der mod­er­nen Medi­zin find­en sich, wie seit Jahrtausenden, in dem ethis­chen Grund­prob­lem, dass Ärzte, Apothek­er und andere „Play­er“, mit dem Leid von Men­schen ihr Geld ver­di­enen und viele von diesen, ethisch-moralisch völ­lig ent­glit­ten, unvorstell­bare Prof­ite einfahren.

Edzard Ernst (2014)

Skepsis auch wichtig im Bereich von Medical Wellness

Das neue Buch von Ernst hat für Kun­den und Anbi­eter von Pro­duk­ten und Dien­stleis­tun­gen im zweit­en Gesund­heits­markt, dort wo „Med­ical Well­ness“ also wesentlich ange­siedelt ist, eine erhe­bliche Bedeu­tung. Es erlaubt näm­lich die Infor­ma­tion und kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit vie­len alter­na­tivmedi­zinis­chen Ver­fahren (wenn denn nicht gle­ich die teil­weise mis­sion­ar­isch vor­ge­tra­ge­nen Bew­er­tun­gen von Ernst „geglaubt“ wer­den). Wenn eine auch von Zweifel und Kri­tik geprägte Auseinan­der­set­zung dazu führt, Kun­den und Patien­ten etwas anzu­bi­eten, was nicht nur aktuellen Hypes und Mod­en „des Mark­tes“ fol­gt, hat dieses Buch bere­its einen Zweck erfüllt.

Bedauer­lich ist, dass trotz der method­is­chen Tiefe der Abhand­lung von Ernst die Bedeu­tung der Alter­na­tivmedi­zin als Fun­da­mentalkri­tik an der Schul­medi­zin bei ihm viel zu kurz kommt. Oder anders aus­ge­drückt: Die eigentlichen Prob­leme der Medi­zin entste­hen in der Schul­medi­zin selb­st, und nicht durch „Schar­la­tane“ oder „abstruse Ideen“ der Alter­na­tivmedi­zin. Dass dies bei Ernst und vie­len anderen Kri­tik­ern kaum the­ma­tisiert wird, liegt an ein­er bekan­nten und gut erforscht­en „Wahrnehmungsstörung“ viel­er Ärzte, Heil­prak­tik­er und ander­er Dien­stleis­ter im Gesund­heitssys­tem: Die Steigerung der Lebenser­wartung und die Krankheit­skom­pres­sion in höherem Leben­salter in der Neuzeit ist zum kle­in­sten Teil durch „Erfolge“ oder “Stern­stun­den” der Medi­zin begründ­bar, son­dern vor allem durch radikale Änderun­gen unseres Lebensstils seit dem 19. Jahrhun­dert. Genau hier­auf zie­len auch viele „Schar­la­tane“ der Alter­na­tivmedi­zin, die auch im Bere­ich Med­ical Well­ness eine große Rolle spie­len. Zum Beispiel der großar­tige Otto Buchinger (der „I.“, 1878–1966), der vor rund 100 Jahren das Heil­fas­ten in Deutsch­land (wieder) einführte.

Auch mal neue Impulse aufnehmen, oder!?

Zwei per­sön­liche Anmerkun­gen, lieber Kol­lege Ernst, zu Entwick­lun­gen der Ärzteschaft in Deutsch­land: Mit Jörg-Diet­rich Hoppe stand ab 1999, dem Jahr, als sie britis­ch­er Staats­bürg­er wur­den, ein von tiefen ethis­chen Grund­sätzen geprägter Arzt der Bun­desärztekam­mer in Deutsch­land vor. Neben seinen vie­len Auf­gaben und Zie­len, haben mich zwei sein­er Impulse, die er noch kurz vor seinem Tod in gewiss­er Weise abschließen kon­nte, beeindruckt.
* Zum einen sein uner­müdlich­es Engage­ment für Plu­ral­is­mus, nicht zulet­zt inner­halb der Ärzteschaft. Dass Ärzte, wie seit Beginn der aktuellen Pan­demie erneut deut­lich wird, der­art unver­söhn­lich, fast bis aufs Blut ver­fein­det sein kön­nen, hat nicht unwesentlich auch mit Ihnen zu tun, Herr Ernst! Ihr nicht sel­ten ein­seit­ig erscheinen­der, unkol­le­gialer Skep­tizis­mus, der Inhalte oft nicht von Per­so­n­en tren­nt, hat — vom akademis­chen Elfen­bein­turm aus -, jahrzehn­te­lange Feind­schaften geschürt. Nicht nur zwis­chen Prinz Charles und Ihnen, son­dern auch in Deutsch­land! Meine Bitte an Sie: Erin­nern Sie sich daran, dass dies z. B. vor noch vierzig Jahren im Kol­legIn­nen-Kreis weit­ge­hend anders war — wir kon­nten uns, trotz unter­schiedlich­ster Auf­fas­sun­gen, noch auf gle­ich­er Höhe in die Augen schauen und haben uns nicht gle­ich gegen­seit­ig an der Gurgel gepackt!
* Zum anderen entsprang das lei­den­schaftliche und wis­senschaftlich dur­chaus gut unter­mauerte Plä­doy­er von Hoppe für die Ver­wen­dung von Place­bo in jed­er ärztlichen Prax­is und Klinik ein­er seit langem, und auch bei etlichen Place­bo­forsch­ern reifend­en Vorstel­lung, warum Place­bos über­haupt funk­tion­ieren. In einem Inter­view kurz vor seinem Tod sagte er mir, ein wesentlich­er Grund für die Wirk­samkeit von „Schein­medika­menten“ sei der Heilungswille der Ärzte (nein, nicht das „Charis­ma“, das Sie jet­zt meinen). Hoppe zielte auf ein tiefes Geheim­nis der ärztlichen Tätigkeit, näm­lich der im Ver­lauf per­sön­lich­er Affiziertheit durch Krankheit aktiv wirk­samen Heilungsideen und ‑kräfte, die Ärzte den eige­nen Patien­ten zu deren „Heil“ bere­it­stellen kön­nen (auch wenn dafür keine ran­domisiert-kon­trol­lierten Stu­di­en vor­liegen). Ich bin sich­er, solche Ideen sind ihnen heute nicht mehr fremd. Ich wün­sche Ihnen, dass die tiefen Schick­sal­sein­schnitte in Ihrem Leben während der let­zten Jahrzehnte, und die lei­d­volle Begeg­nung mit Ster­ben und Tod, vielle­icht eine gewisse Befreiung von rigi­den Denkge­wohn­heit­en ermöglichen. Und dass Sie z. B. Ihre fol­gende Aus­sage eines Tages anders bew­erten können: 

„… Men­schen, die an die Möglichkeit glauben, dass Gebete ihre Gesund­heit verbessern kön­nten, gehen davon aus, dass Gott in ihrem Namen ein­greifen könne, indem er sie mit heilen­der Energie seg­ne. Diesen Annah­men man­gelt es an wis­senschaftlich­er Plausibilität. …“.

Ich wün­sche mir auch, dass Sie bemerken wer­den, dass „Liebe“ und „Empathie“ als Grund­la­gen unseres men­schlichen und ärztlichen Han­delns entschei­dend für Heilung und Gesund­heit sind.

Autor
• Rain­er H. Buben­z­er, Press­esprech­er Deutsch­er Med­ical Well­ness Ver­band e. V., Berlin, 18. März 2021.
Bild­nach­weis
• Mar­i­on I. Kaden, Berlin, 3. Mai 2014.
Das Buch
• Edzard Ernst: Heilung oder Hum­bug? 150 alter­na­tivmedi­zinis­che Ver­fahren von Akupunk­tur bis Yoga. Springer, Berlin, Dezem­ber 2020 (DOI).
ISBN 978–3‑662–61708‑3 (Soft­­­cov­­er-Buch, € 24,99) (bei Ama­zon kaufen)
ISBN 978–3‑662–61709‑0 (eBook, € 19,99) (bei Ama­zon kaufen)

Ver­lagsmit­teilung zum Buch

Alter­na­tive Medi­zin ist pop­ulär: etwa 70% der deutschen Bevölkerung hat im ver­gan­genen Jahr min­destens eine Art von alter­na­tiv­er Behand­lung angewen­det. Doch was brin­gen Antiox­i­dantien, Aloe Vera, Kine­si­olo­gie und Rei­ki eigentlich? Kann man an der Zunge oder der Iris erken­nen, ob es den inneren Orga­nen gut geht? Welche Erfolge kön­nen Geis­theilung, auto­genes Train­ing oder Hyp­nother­a­pie vorweisen?

Es gibt vielschichtige Gründe für die große Beliebtheit dieser Meth­o­d­en — Fehlin­for­ma­tio­nen soll­ten dabei eigentlich keine Rolle spie­len. Lei­der pras­seln auf Anwen­der und Hil­fe­suchende eine Menge an Fehlin­for­ma­tio­nen ein. Diese sind auss­chlaggebend dafür, dass falsche, unkluge oder sog­ar gefährliche ther­a­peutis­che Entschei­dun­gen getrof­fen werden.

Dieses Buch hil­ft dem Leser, sich im Labyrinth der alter­na­tiv­en Medi­zin zurechtzufind­en. Neben wesentlichen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen zu alter­na­tiv­er Medi­zin wie dem Place­bo-Effekt, wis­senschaftliche Nach­weis­meth­o­d­en und gesellschaftlichen Pro- und Con­tra Argu­menten, führt das Buch durch 150 alter­na­tive ther­a­peutis­che und diag­nos­tis­che Meth­o­d­en und beurteilt sie unter anderem hin­sichtlich Wirk­samkeit, Kosten und Gefahren­po­ten­tial. Das Buch richtet sich an Leser, die ein Inter­esse an ihrer Gesund­heit haben, daher auch mit der Alter­na­tivmedi­zin liebäugeln und eine evi­denzbasierte Analyse suchen.


Beispiel­text aus dem Buch

Lymphdrainage

Die Lym­phdrainage ist eine san­fte manuelle Mas­sagetech­nik, die in den 1930er-Jahren von dem dänis­chen Arzt Emil Vod­der (1896–1986) und sein­er Frau Estrid entwick­elt wurde.

  • Die Lym­phdrainage beste­ht aus rhyth­mis­chen manuellen Bewe­gun­gen ent­lang der Lym­phge­fäße. Dadurch soll die Lym­ph­flüs­sigkeit durch die Lym­phge­fäße zu den Lym­ph­knoten und in den Blutkreis­lauf geleit­et wer­den. Einige Enthu­si­as­ten behaupten, dass dieser Prozess die Auss­chei­dung von Gift- und Schlack­en­stof­fen aus dem Kör­p­er beschleunigt.
  • Während ein­er Sitzung zur Lym­phdrainage bewegt der Ther­a­peut seine Hände leicht über die Haut des Patien­ten. Dies erfordert oft Zugang zu inti­men Kör­per­re­gio­nen, und manchen Patien­ten ist ein solch enger Kon­takt unangenehm.
  • Die meis­ten Patien­ten empfind­en die Behand­lung jedoch als wohltuend und inten­siv entspannend.
  • Lym­phdrainage wird in der Regel von Masseuren durchge­führt, die eine spezielle Aus­bil­dung in dieser Meth­ode erhal­ten haben. Eine vere­in­fachte Ver­sion der Ther­a­pie kann den Patien­ten für regelmäßige Selb­st­be­hand­lun­gen beige­bracht werden.
  • Die Lym­phdrainage wird für ein bre­ites Spek­trum von Erkrankun­gen emp­fohlen, in der Regel als Zusatzther­a­pie zur Ergänzung ander­er Inter­ven­tio­nen. Nach Ansicht einiger Befür­worter kann die Lymphdrainage: 
    • die Abwehr von Infek­tio­nen stärken,
    • die Heilung und Gene­sung von Krankheit­en beschleunigen,
    • Wasserein­lagerun­gen reduzieren,
    • die Gewichtsab­nahme fördern,
    • die Haut­tex­tur verbessern,
    • die Heilung von Nar­bengewebe beschle­u­ni­gen oder auch
    • Cel­lulite reduzieren.
  • Es sind keine direk­ten Risiken bekan­nt. Die Befürch­tung, dass die Lym­phdrainage Kreb­szellen im ganzen Kör­p­er ver­bre­it­en kön­nte, hat sich nicht bestätigt.
  • Es gibt kaum Belege dafür, dass die Lym­phdrainage wirk­sam ist. Am besten ist sie als Behand­lung des Lym­phödems erforscht, ein­er Kom­p­lika­tion, die manch­mal nach ein­er radikalen Kreb­sop­er­a­tion auftritt. Ein sys­tem­a­tis­ch­er Review von sechs Stu­di­en kam zu dem Schluss, dass „die manuelle Lym­phdrainage (MLD) unbe­den­klich ist und einen zusät­zlichen Nutzen zum Kom­pres­sionsver­band bei der Reduk­tion von Öde­men bieten kann […] Die Ergeb­nisse waren wider­sprüch­lich für die Funk­tion (Bewe­gung­sum­fang) und nicht schlüs­sig für die Leben­squal­ität. Bei Symp­tomen wie Schmerzen und Schw­erege­fühl gaben 60–80 % der Patien­ten an, sich unab­hängig von der Behand­lung bess­er zu fühlen.“ (Ezzo et al., 2015)

Kommentar des Buchrezensenten

Die Arbeitsweise bei den Analy­sen von Ernst ähnelt sich bei allen Ver­fahren. Anstatt tat­säch­liche Erfahrungswerte betrof­fen­er Patien­ten mit Ergeb­nis­sen wis­senschaftlich­er (Meta-)Analysen zu verknüpfen und so ein wahrheits­ge­treueres Bild zu erzeu­gen, wird auf Nar­ra­tive (oder auf Hochdeutsch “Märchen”) Bezug genom­men, deren Quellen z. B. “einige Enthu­si­as­ten” oder “einige Befür­worter” sein sollen (ohne weit­ere Quel­lenangaben im übrigen).

Das mil­lio­nen­fache Leid von Pati­entin­nen nach Brustkrebs-Oper­a­­tio­­nen, die sich mit schw­er­sten und lebenslan­gen Fol­gen radikaler und medi­zinisch meist sinnlos­er Ent­fer­nung von Lym­phgewebe mit Dauerö­dem und Funk­tion­sein­schränkun­gen ihrer Arme auf der betrof­fe­nen Seite quälen mussten, unter­schlägt Ernst. Eine gerecht­fer­tigte Kri­tik an den entsprechen­den Oper­a­tionstech­niken, die seit über 100 Jahren ver­wen­det, und die erst in jün­ger­er Ver­gan­gen­heit — evi­denzbasiert! — verän­dert wur­den, wird nicht geäußert. Und dass die Lym­phdrainage eine Antwort auf genau diesen riesi­gen Miß­s­tand des post­op­er­a­tiv­en Lym­phödems war, wird nicht erwäh­nt. Son­dern diese oft schwere Kom­p­lika­tion schul­medi­zinis­ch­er Maß­nah­men wird im gle­ichen Atemzug mit “Cel­lulite-Behand­lung” erwäh­nt … wenn das nicht Pro­pa­gan­da ist!

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